Der Anruf einer Karbenerin erreichte mich als dringender Hilferuf: ob unsere Hospizgruppe ihren Mann begleiten könne, der ein Lungenkarzinom im fortgeschrittenen Stadium habe. Sie selbst sei am Ende ihrer Kräfte und brauche dringend Entlastung.
Bei meinem schon gleich am nächsten Tag vorgenommenen Antrittsbesuch fand ich einen hochgewachsenen, schlanken Mann am Wohnzimmertisch sitzend vor – in ähnlichen Alter wie ich. Ich bemerkte, dass der Umgang des Ehepaars miteinander im Moment – verständlicherweise – recht angespannt verlief. Die Ehefrau verabschiedete sich recht bald, um Einkäufe vorzunehmen und sich mit einer Freundin zu treffen.
Währenddessen hatten wir schnell ins Gespräch gefunden, tauschten uns über Artikel der am Tisch liegenden Zeitung aus und stellten übereinstimmende Ansichten fest. Ganz offensichtlich genoss er meine Anwesenheit und unseren regen Gedankenaustausch.
Bei ihrer Rückkehr erzählte mir seine Frau, sie schaffe es nicht mehr, ihren Mann zu einem Spaziergang zu animieren, obwohl dies dringend vom Arzt empfohlen worden sei. Ich griff die Anregung auf und schlug einen gemeinsamen Rundgang ums Haus vor. Ohne zu zögern stand er auf, ließ sich von mir – zum großen Erstaunen seiner Gattin - in Schuhe und Jacke helfen: und schon machten wir uns als Trio auf zu einem gemächlichen Gang um die Häuserecken.
Leider konnten wir unsere gemeinsamen „Ausflüge“ nicht mehr oft wiederholen, da ihm das Laufen mit dem raschen Fortschreiten der Krankheit immer schwerer fiel.
Etwa beim 6. Besuch – die Ehefrau hatte gerade das Haus verlassen – bot mir mein „Gastgeber“ einen Sherry an, den ich zunächst ablehnte. Seinem dringenden „Bitte tun Sie mir den Gefallen!“ konnte ich aber dann doch nicht mehr standhalten, auch wenn mir nach Alkohol so gar nicht der Sinn stand. Schwerfällig stand er vom Tisch auf, holte Apfelweingläser aus dem Schrank und goss den ebenfalls herbeigeholten Sherry ein, ohne auf meinen Einwand zu reagieren, dass dies vielleicht nicht unbedingt die richtigen Gläser seien. Wir prosteten uns gerade aus den überdimensionierten Gefäßen zu, als die Ehefrau plötzlich im Zimmer stand, uns beide musterte und süffisant bemerkte: „Na, ihr lasst es euch aber gut gehen!“
Mir wurde heiß und kalt, wie einem kleinen beim Naschen ertappten Kind...