Und schon bin ich gedanklich in meiner letzten Begleitung: Die Dame ist 93.
Die Schwester sagt ihr: „Frau M., Sie haben Besuch!“
Ich trete an ihr Bett und glaube, bei ihr ein Erkennen zu bemerken. Schließlich war sie ja gemeinsam mit ihrer Schwester, die ebenfalls im Heim lebt, eifrige Teilnehmerin an unseren donnerstäglichen Singstunden. Als ich sie begrüße, bedeutet sie mir, mich ihrem Mund zu nähern. Wispernd und auf die Ohren deutend, will sie mir zu verstehen geben, dass sie schlecht hört. Das ist dann aber auch schon die ganze Reaktion auf meine Anwesenheit.
Erst einmal hole ich mir einen Stuhl, setze mich an ihr Bett und spreche sie an. In ihrem Gesicht glaube ich ein leichtes Lächeln zu erkennen beim Klang meiner Worte. Auch als ich ihr vorlese aus Carl Zuckmayers „Als wär's ein Stück von mir“. Doch dann fällt mir ein: Frau M. ist ja schwerhörig.
Ihre Hörgeräte entdecke ich dann später auf dem Tisch liegend, als ich den Rekorder bediene.
In Vorbereitung meiner Begleitung wurde mir gesagt, Frau M. habe mit Freude gesungen, aber auch gerne Schlager gehört. Besonders „Aber dich gibt's nur einmal für mich.“
Sogar die Stelle auf der CD, Lied Nr. 8, wurde mir mitgegeben. Also bin ich zum Rekorder, dessen Bedienung ich erst einmal kennenlernen musste. Da ist auch noch eine Kassette drin, die ich zuerst laufen lasse. Das nun ertönende Lied „Lebt denn der alte Holzmichel noch?“ ist nicht gerade die passende Musik.
Also doch CD und Lied Nr. 8. Laut ertönt nun das richtige Lied.
Nur, ich kann nicht die ganze Zeit, die ich bei Frau M. verbringe, immer nur dies eine Lied erklingen lassen. Auf der Kassette sind, das habe ich dann später noch herausgefunden, andere mir unbekannte Schlager, die ich dann doch noch ablaufen lasse.
Allerdings zeigt Frau M. außer bei ihrem Lieblingslied keinerlei Reaktionen. Ich setze mich wieder an ihr Bett und biete ihr meine Hand an, die sie ergreift und abwechselnd drückt und streichelt. Ob ihr meine Anwesenheit gut tut, weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass sie spürt, dass sie nicht allein ist.
Als ich mich dann für heute verabschiede und verspreche wiederzukommen, glaube ich, wieder das flüchtige Lächeln zu erkennen.
Ab meinem nächsten Besuch ergibt sich so etwas wie ein Ritual: Gelernt aus dem Musikbeitrag des ersten Tages bringe ich meine eigenen CDs mit, sitze an ihrem Bett, sie hält meine Hand und ich singe ihr gemeinsam mit Hermann Prey, Fritz Wunderlich oder dem Dresdner Kreuzchor Volkslieder vor, solche Lieder, die wir auch immer donnerstags gesungen haben.
Bewegt sich ihr Mund manchmal ein wenig, so... als wolle sie mitsingen?
Ich weiß es nicht! Ich verabschiede mich wieder mit CD, Nr. 8 „Aber dich gibt's nur einmal...“.
Drei, vier Wochen besuche ich nun zweimal wöchentlich Frau M., die immer schwächer wird. Bis ich eines Morgens vom Sozialdienst des Heimes angerufen und von ihrem Tode benachrichtigt werde.
Nach der Beisetzung kommt die Nichte von Frau M. auf mich zu und übergibt mir das Buch ,,Als wär's ein Stück von mir.“.
Wer ihr das wohl „gesteckt" hat?
Im Buch liegen noch ein schönes Foto von Frau M. sowie ein von ihr gemaltes Bild.